01. November 2022 / Reportage

Mit der Nachtschicht entstehen Risiken in allen Lebensbereichen

In der Nacht zu arbeiten, entspricht fast keinem Menschen – nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. Dabei arbeitet rund ein Fünftel der Arbeitnehmenden regelmässig auch nachts, insbesondere der Gesundheitssektor, die Polizei, die Sicherheitsdienste. Die Psyche leidet darunter, das Sozialleben und unter Umständen auch die berufliche Karriere. Ein Gespräch mit Schlafforscher Dr. Martin Meyer.


Das Zentrum für Chronobiologie in Basel, das den Universitären Psychiatrischen Kliniken angegliedert ist, ist in Sachen Schlafforschung weltweit eines der führenden Zentren. Diese Disziplin untersucht nicht nur Schlafstörungen, sondern die innere Uhr, die dem Schlaf genauso wie den meisten Stoffwechselprozessen den Takt gibt.


Der Schlaf ist hauptsächlich durch zwei Faktoren geregelt: Die Tagesmüdigkeit – wie lange man wach ist – und die innere Uhr (in der Fachsprache: der zirkadiane Rhythmus). Nach dieser inneren Uhr leitet das Gehirn am Abend durch eine Hormonausschüttung das Schlafen ein und am Morgen das Aufwachen. Darum ist eine Nachtschicht für den Menschen eine besondere Herausforderung: Man macht genau das Gegenteil als das, was das Gehirn befiehlt.


Chronobiologe Dr. Martin Meyer klärte uns auf über Probleme, Herausforderungen, Strategien und Massnahmen im Zusammenhang mit der Nachtschichtarbeit.


Herr Dr. Meyer, auch in Spitälern wird rund um die Uhr gearbeitet. Wie handhaben dies medizinische Einrichtungen?

Jeder Assistenzarzt, der Schicht arbeitet, wird laufend gesundheitlich gecheckt, besonders jene mit Diabetes, hohem Blutdruck und Übergewicht und einem Alter über 50 Jahren. Dies sind die Risikofaktoren, die für die Schichtarbeit belastend sind und in die Beurteilung einfliessen. Gerade die Menschen über 50 haben zwar mehr Lebenserfahrung und wissen, was sie sich zutrauen können, aber sie sind weniger anpassungsfähig an die Nachtschicht. Sie schlafen tagsüber schlechter und weniger, erholen sich also weniger gut von einer Nachtschicht. Wir empfehlen, ab 50 keine Nachtschichten mehr zu machen.


Welche externen Faktoren sind dabei zu berücksichtigen?

Ein längerer Arbeitsweg, ein zweiter Beruf, private und soziale Verpflichtungen sind eine besondere Belastung und entscheiden mit über Tauglichkeit der Assistenzärzte für die Nachtschicht.


Welche typischen Nebeneffekte lassen sich bei Nachtschicht-Arbeitenden tagsüber feststellen?

Die Nebeneffekte sind sehr individuell. Wenn man am Tag schläft, ist man müder, reizbarer, man kann sich weniger konzentrieren, hat häufiger als sonst Kopfweh und Appetitstörungen – das sind die Beobachtungen der Schlafmedizin. Folgen sind oft auch Antriebslosigkeit und Depressionen, Schlafmedikamenten- und Alkoholkonsum, Übergewicht. Ausserdem leiden manche unter sozialen Stress, weil das Sozialleben durch die Nachtarbeit beeinträchtigt ist. Das Arbeiten an Wochenenden und an Feiertagen erschwert diesen Punkt zusätzlich.


Gibt es Krankheitsbilder, die bei Nachtschicht-Arbeitenden gehäuft vorkommen?

Es gibt höhere Fallzahlen für Krebs, insbesondere Brustkrebs, Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und Demenz. Aber es gibt keine Studien, die bisher eine Kausalität, also einen erklärten Zusammenhang bewiesen haben.


Mit welchen Gefahren am Arbeitsplatz muss man rechnen während einer Nachtschicht?

Das Gedächtnis, die Konzentration und der Fokus sind eingeschränkt, am schlimmsten zwischen 4 und 6 Uhr morgens. In diesen zwei Stunden erwartet man die meisten Katastrophen. Fehler und Fehlentscheidungen häufen sich zu diesen Zeiten. Es wäre viel sicherer, die Schichtwechsel auf 4 statt 6 Uhr anzusetzen. Ausserdem ist die Heimfahrt eine Gefahr.


Was müsste man als Arbeitgeber den Nachtschicht-Arbeitenden speziell beibringen?

Wer nach einer Nachtschicht heimfährt, muss ganz klar wissen, dass die Unfallgefahr wegen Sekundenschlaf und Unachtsamkeiten viel höher ist. Diese Gefahr nimmt mit dem Alter zu. Wir empfehlen einen Powernap vor dem Losfahren, insbesondere, wenn der Heimweg lang ist. Eine Stunde Autobahn fahren ist wegen der Monotonie das Schlimmste. Ich würde ausserdem empfehlen: Schult eure Leute, damit sie wirklich verstehen, dass sie während einer Nachtschicht nicht immer funktionsfähig sind. In dieser Zeit muss man sich besonders absichern. Man macht viel mehr Fehler und geht mehr Risiken ein. Je müder, desto impulsiver wird man. Man verändert zwar seinen moralischen Kompass nicht, aber man macht Fehler, trifft Fehlentscheidungen. Man kann dies als verminderte Entscheidungsfähigkeit beschreiben. Zudem fallen einem die eigenen Fehler häufig nicht auf, die Selbstbeurteilung ist sehr unkritisch. In Spitälern hat man für die Nacht spezielle Standard-Prozeduren: Jede Handlung stösst auf eine Kontrolle. Man muss sich strikt ans Protokoll halten.


Wie steht es typischerweise mit der Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit?

Schichtarbeiter sind in der Regel sehr pünktlich, sehr gewissenhaft. Wer nicht um 6 Uhr, sondern erst um 8 Uhr zur Arbeit kommt, macht sich im Team sehr unbeliebt. Pünktlichkeit ist grundsätzlich nie ein Thema bei den Nachtschicht-Berufen.


Welche Tricks helfen, um die Nachtschicht gut vorzubereiten?

Am Abend vor der Arbeit sollte man Kaffee trinken, Koffein zu sich nehmen. Wenn es das Protokoll erlaubt, soll man sich in der Nacht auch einen Powernap gönnen. Ansonsten sollte man ständig aktiv bleiben, damit der Körper nicht herunterfährt. Wir empfehlen, aktive Pausen einzulegen. Das heisst, sich regelmässig an der frischen Luft bewegen und den Kopf freimachen. So kann man Zwischenkrisen überwinden.


Wie beurteilen Sie die Situation für jene Mitarbeitende, die nicht mehr die Jüngsten sind und erstmals mit Nachtschichten konfrontiert sind?

Für sie bedeuten Nachtschichten eine gigantische Umstellung. Nicht nur gesundheitlich, sondern für deren ganzes Umfeld. Der Durchschnittsschweizer lebt in einer Beziehung, hat seine privaten Verpflichtungen und Freundschaften. Das ist dann weg. Das ist eine riesige Umstellung im Lebensrhythmus – für ihr ganzes soziales System. Therapeuten sagen, dass die Übergangsphase eist mehrere Monate dauert. Das ist ein Prozess, den man nicht in wenigen Tagen schlucken kann.


Welchen Tagesablauf würden Sie für Nachtschicht-Tage empfehlen?

Wer von 5 bis 12 arbeitet, dann ab 22 Uhr die Nachtschicht beginnt, begegnet einer Schwierigkeit: Wer mittags nach der Arbeit isst, dürfte danach Mühe haben, zu schlafen. Aber es wäre wichtig, zum Beispiel von 13 bis 16 Uhr zu schlafen. Vor der Nachtschicht sollte es ein Abendessen geben und, wenn möglich, noch einen Powernap vor der Arbeit. Wer hingegen mehrere Nachtschichten nacheinander hat, sollte hingegen seinen ganzen Zeitplan, insbesondere Schlaf und Essenszeiten, mit den Arbeitszeiten verschieben. Das heisst, zur Hälfte der Schicht ein «Mittagessen» haben, und erst am späten Morgen schlafen gehen, dafür länger schlafen.


Wie kann man sich am besten von Nachtschichten erholen, um gut zum Normalbetrieb zurückzukehren?

Ich empfehle leichte körperliche Aktivität, statt herumzuliegen, wie wandern, velofahren oder im Garten arbeiten; soziale Kontakte pflegen, regelmässig essen, entspannen. Wichtig ist, dass man draussen Zeit verbringt, um sich vom Licht wieder die Zeit zu geben und die innere Uhr zu stützen.


Welches sind die typischen Alarmzeichen, dass einem die Nachtschichten zuviel zusetzen?

Müdigkeit, Schlafstörungen, Insomnie, höherer Alkoholkonsum, Reizbarkeit, Antriebslosigkeit, depressive Grundzüge, sowie das Meiden von sozialen Kontakten.


Ist eine positive Einstellung wichtig, um Nachtschichten besser zu bewältigen?

Wenn man grundsätzlich der Nacht gegenüber positiv eingestellt ist, hilft es bestimmt. Häufig ist die Motivation monetär, weil Nachtschichten besser vergütet werden. Dies ist wichtig und richtig, aber gleichzeitig verlockt es dazu, mehr in der Nacht zu arbeiten. Das kann auch schiefgehen. Darum ist die gesundheitliche Überwachung wichtig, und zwar von einem Arzt, der speziell darin geschult ist und schlüssig sagen kann, dass für jemanden die Schichtarbeit nicht mehr angezeigt ist. Wichtig ist, dass es keine beruflichen Nachteile für die Mitarbeitenden nach sich zieht, wenn ein Arzt sagt, dass für jemanden Nachtschichten nicht mehr zumutbar sind.

Die Empfehlungen des Schlafforschers für die Nachtschicht

Der Schlafforscher Martin Meyer empfiehlt, nach einer Nachtschicht morgens auf dem Heimweg die Sonnenbrille zu tragen, falls die Sonne scheint, damit das Tageslicht die Schlafphase nicht noch weiter verschiebt. Der Arbeitsweg sollte auch nicht zu lang sein. Falls doch, empfiehlt er einen Power-Nap, bevor man die Heimreise antritt – insbesondere für Personen über 50 Jahren.

Ausserdem fällt typischerweise in der Nachtschicht die Lust auf Süssigkeiten auf, oder das «Snacken», also ständig etwas knabbern. Das erhöht das Risiko auf Übergewicht. Wer nur eine einzelne oder zwei Nachtschichten nacheinander arbeitet, sollte seine/ihre gewohnten Essensrhythmen halten und aufs ständige Knabbern verzichten. Bei drei oder mehr Nachtschichten nacheinander sollte man hingegen die Essensrhythmen mit den Arbeitszeiten mit-verschieben, also am Abend vor der Arbeit frühstücken, zur Hälfte der Nachtschicht eine richtige Mahlzeit essen.

Was macht Garanto

Die Erkenntnisse des Schlafforscher sind auch für Garanto neu und zeigen, dass diese für den Gesundheitsschutz unserer Mitglieder sehr wichtig sein werden. Wir bleiben dran und halten ein besonderes Augenmerk auf die Gesundheit der unregelmässig arbeitenden BAZG-Angehörigen.

Keine Nachtschichten mehr ab 50 war eine wichtige Forderung im Sozialplan. Bis dato haben wir in den Diskussionen wenig erreicht, weil immer das Argument fällt, dass alles zu Lasten der Jungen geht.  Die Forderung des Sozialplanes wonach die Ruhezeit zwischen 2 Schichten mindestens 11 Stunden betragen soll, ist jedoch auf gutem Wege. Dank der überzeugenden Aussagen des Schlafforschers erhält diese Forderung ein neues Gewicht.

Für Personen, welche aus gesundheitlichen Gründen nicht länger Nachtschichten arbeiten können, standen in der Vergangenheit innerhalb der EZV zahlreiche Möglichkeiten offen. Bis dato wurde für diese Personen individuelle Lösungen gesucht. Es ist klar, dass Garanto auch bei diesem Thema dranbleiben wird.

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